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Raúl Rojas, Mexiko

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// Die Frucht der Kommunikation //
Manuel Cabrera, Mexiko

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// Scheherazade und die Algebra //

Jeder kennt die Geschichte der Scheherazade, Heldin und Erzählerin der gesammelten Geschichten aus „Tausendundeiner Nacht“: Als der Sultan Schariyar herausfindet, dass seine Frau ihn mit einem Sklaven betrogen hat, beschließt er, sich jede Nacht eine neue Frau zu nehmen und sie am darauffolgenden Tag hinrichten zu lassen, um einem weiteren Ehebruch vorzubeugen. Scheherazade, die Tochter des Wesirs, bietet sich gegen den Willen ihres Vaters, dem Sultan aus freien Stücken als neue Ehefrau an, doch sie entgeht ihrer Hinrichtung, indem sie jede Nacht eine neue Geschichte beginnt, ohne sie zu Ende zu erzählen. Jeden Morgen begnadigt sie der Sultan aufs Neue, um das Ende der Geschichte zu hören. So geht es 1001 Nächte lang.

Das Werk ist eigentlich eine Zusammenstellung von Legenden, die nachträglich um Erzählungen aus anderen Regionen aus dem arabischen Einflussbereich erweitert wurde. Jorge Luis Borges schrieb: „Im 15. Jahrhundert werden in Alexandria, der Stadt Alexanders des Großen, eine Reihe von Fabeln gesammelt, die eine außergewöhnliche Geschichte haben. Man erzählt sie sich zunächst in Indien, dann in Persien, dann in Kleinasien und schlussendlich werden sie in arabischer Schrift in Kairo gesammelt. Es ist das Buch von Tausendundeiner Nacht.”

Das Werk erstreckt sich über das so genannte goldene Zeitalter des Islam, als die arabische Kultur in Persien, der arabischen Halbinsel, großen Teilen Asiens sowie Nordafrika dominierte. Zwischen 800 und 1300 n. Chr. traten die Araber somit in den Bereichen der Wissenschaft und Technologie das Erbe der Ägypter, Babylonier, Griechen und Römer an. In Bagdad, seit dem 9. Jahrhundert n.Chr. Hauptstadt des arabischen Imperiums, wurden Übersetzungen von hebräischen, griechischen und lateinischen Büchern angefertigt und wissenschaftliche Werke aller Disziplinen zusammengetragen. Das „Haus der Weisheit” in Bagdad würden wir heute als den„Think-Tank” des Kalifats bezeichnen. Ursprünglich eine Bibliothek, entwickelte sich das Bait al-Hikma zum Treffpunkt und Arbeitsort der großen Gelehrten der Zeit.

In diesen Kontext bettet sich „Tausend und eine Nacht” – eine Zeit, in der Arabien zu einem höchst dynamischen wissenschaftlichen Zentrum avancierte. Im Zentrum mehrerer Erzählungen steht Harun ar-Raschid, ein Kalif aus jenem Geschlecht, das es schaffte, die Hauptstadt des Imperiums aus Andalusien nach Bagdad zu verlagern. Obwohl es in „Tausendundeiner Nacht” keine Referenzen auf das Haus der Weisheit gibt, finden die Bibliotheken des Kalifs darin Erwähnung. Mehr als einmal dient ein Buch als Ausgangspunkt für die Erzählungen Scheherazades.

Dies führt uns zu der Geschichte eines Mannes, der während dieses goldenen Zeitalters lebte und im Haus der Weisheit wirkte. Ein arabischer Mathematiker, der legendären Ruhm als der Euklid und Diophant der arabischen Mathematik genoss und der es verdient hätte, im Zentrum vieler Geschichten aus dem Mund von Scheherazade zu stehen. Abu Dscha’far Muhammad ibn Musa al-Chwarizmi, besser bekannt als al-Chwarizmi, wurde irgendwo im arabischen Imperium geboren, möglicherweise zwischen Iran und Usbekistan. Er war ein Universalgelehrter, der sowohl in der Astronomie als auch in der Mathematik, der Geografie und der Kartografie bewandert war. Zwei der zahlreichen Beiträge, die er im Bereich der Wissenschaft leistete, beeinflussten die europäische Geschichte nachhaltig: die Verbreitung des in Indien eingeführten dezimalen Zahlensystems, das wir heute noch verwenden, und die didaktische Vermittlung der Prinzipien der Algebra. Die Bezeichnung „Algorithmus“ für die mechanische Lösung eines numerischen Problems geht auf den Namen al-Chwarizmis zurück.

„Algebra” ist ein Wort arabischen Ursprungs und ein Fragment der bekanntesten Publikation al-Chwarizmis, „Kitab al-mukhtasar fi hisab al-jabr wa’l-muqabala“, deren Titel oft mit „Das kurzgefasste Buch über die Rechenverfahren durch Ergänzen und Ausgleichen“ übersetzt wird. „Al-dschabr“ ist das arabische Wort, das oftmals als Methode des Ergänzens übersetzt wird. Die erste Übersetzung des Buchs in die lateinische Sprache erfolgte 1145 und trug den Titel „Liber algebrae et almucabala”, wodurch sich der Begriff „Algebra” in den europäischen Sprachen und weltweit durchsetzte.

Al-Chwarizmi präsentiert in seinem Buch unterschiedliche Lösungsansätze für Rechenvorgänge, die wir heute als lineare Gleichungen bezeichnen, von der Art „gesucht ist die Zahl, von der zwei übrigbleiben, wenn wir drei abziehen”. Viele der Beispiele beziehen sich auf die Verteilung von Nachlässen und die Aufteilung von Vermögen und sollen Richtern als Anleitung für die Schlichtung entsprechender Auseinandersetzungen dienen. Daher ist dieses Buch als eine Art Kompendium oder Benutzerhandbuch anzusehen. Um Probleme dieser Art zu lösen, kann man wie bei einer Waage vorgehen: beide Seiten einer Gleichung sind wie zwei Waagschalen, wo Gewichte hinzugefügt oder hin- und herbewegt werden können, um das Gleichgewicht herzustellen. Auch heute wird das Thema in der Sekundarstufe in Form dieses Vergleichs eingeführt, um den Schülern diese Art der Errechnung der Gleichwertigkeit auf einfache Weise näher zu bringen.

Allerdings ist die oben genannte Übersetzung des Buchtitels nicht ganz korrekt. Vor fast 80 Jahren zeigten Salomon Gandz und Otto Neugebauer auf, dass der Begriff„al-dschabr“ eine weitaus kompliziertere Geschichte besitzt, die „Tausendundeiner Nacht“ würdig wäre. Schon Jahrhunderte vorher hatten Babylonier und Ägypter grundlegende Methoden zur Lösung von Gleichungen mit einer Unbekannten entwickelt. Eine Gleichung besteht immer aus zwei Seiten, die einander gegenüberstehen und durch das Gleichheitszeichen miteinander verbunden sind. Gandz und Neugebauer konnten die Quellen al-Chwarizmis auf die Babylonier, Assyrer und Sumerer zurückführen. Im Assyrischen bedeutet „gabru-maharu” gegenüberstellen oder gleichwertig sein. Das arabische “al-dschabr“ ist phonetisch an das assyrische Wort angelehnt; der arabische Begriff „al-muqabala“ bedeutet ebenfalls gegenüberstellen oder gleichwertig sein. Gandz folgerte daraus, dass der Titel von al-Chwarizmis Buch „Kitab al-mukhtasar fi hisab al-jabr wa’l-muqabala” mit „Die Wissenschaft von den Gleichungen” übersetzt werden könnte, da sowohl der assyrische Terminus„al-dschabr” als auch das arabische Wort„al-muqabala” sich auf Gleichungen beziehen.

Bemerkenswerterweise war der Grieche Diophant von Alexandria schon Jahrhunderte zuvor viel weiter als al-Chwarizmi. Er forschte im Bereich der Arithmetik und orientierte sich an den herausragenden Leistungen Euklids. Wie zuvor Euklid wollte auch Diophant 13 Bücher publizieren. In seinen Werken findet man Lösungsansätze für Aufgaben mit vier Variablen und sechsten Potenzen. Jedoch fehlte in Diophants Publikation der praktische Ansatz, über den das Buch al-Chwarizmis verfügte. Aus diesem Grund hatten die Übersetzungen der Schriften des persisch-arabischen Mathematikers einen unmittelbareren und praktischeren Einfluss als die Ausführungen des griechischen Theoretikers. Al-Chwarizmi drang nicht mit derselben Tiefe in die Materie ein wie Diophant und beschränkte sich auf das Zusammentragen der Erkenntnisse der babylonischen und ägyptischen Mathematiker, aber er präsentierte die Inhalte auf zugängliche und didaktische Art in Form eines Nachschlagewerks. Somit war der Grundstein für die Verbreitung der Algebra in Europa gelegt.

Edgar Allan Poe wagte es sogar, die „Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht” um eine weitere Erzählung zu ergänzen – die „Die tausendundzweite Nacht der Scheherazade“ ist eine kleine Satire. Hätte doch auch Jorge Luis Borges, der sowohl für „Tausendundeine Nacht“ als auch für die Mathematik ein großes Interesse hegte, dem Werk noch eine weitere fantastische Geschichte hinzugefügt – ähnlich seiner „Bibliothek von Babel“, aber über al-Chwarizmi, das Haus der Weisheit und die Bücher, die die Welt veränderten.

Raúl Rojas

Raúl Rojas ist Professor für Künstliche Intelligenz an der Freien Universität Berlin. Mit seinen Fußballrobotern gewann er die Weltmeisterschaften 2004 und 2005. Er entwickelte das autonome Auto “MadeInGermany”, das seit 2011 auf den Straßen Berlin unterwegs ist und ist Mitglied der mexikanischen Akademie der Wissenschaften.

Manuel Cabrera

Manuel Cabrera wurde 1986 in Mexiko Stadt geboren. Er studierte Grafikdesign an der Universidad Iberoamericana. Zur Zeit arbeitet er als freischaffender Grafikdesigner und Illustrator, während er dabei ist, ein zweites Studium in Architektur zu beenden.

November 2013
© Santacruz International Communication

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