// Tanz ist wichtig! //
Als kleines Mädchen bin ich einfach der örtlichen Ballettschule beigetreten, wo ich mich in der Märchenwelt von Prinzessinnen, Schwänen und Geistern verlor. Als ich im Biologieunterricht vom Futtertanz der Bienen erfuhr, war ich fasziniert: Die Vorstellung, dass diese Insekten über eine angeborene Choreografie verfügen, die sie auf dem Weg von und zu ihrem Bienenstock aufführen, fesselte mich. Sie beschwor in mir kindliche Bilder von einer Balletttruppe weiblicher Arbeitsbienen herauf, die an ihren Pirouetten, Fouettés und Grand Jetés feilten. Immerhin machte es mir aber bewusst, wie wichtig Bewegung und Tanz sind – sowohl für den Einzelnen als auch für die Gesellschaft als Ganzes.
Tanz ist eine Form der Kommunikation. Ohne dass ein gesprochenes Wort nötig wäre, kann er Grenzen überwinden und kraftvolle visuelle Botschaften übermitteln. Die Stammestänze in Afrika wurden hauptsächlich aufgeführt, um Freude auszudrücken oder um zu feiern: den Anbruch einer neuen Jahreszeit, die Geburt eines Kindes oder eine Hochzeit. Manchmal wurde damit sogar dem Leben eines Verstorbenen gedacht. Die Tänze lehrten soziale Verhaltensmuster und Werte, die den Menschen bei ihrer Arbeit und dem Erwachsenwerden halfen; sie gaben aber auch dem Leben in der Gemeinschaft Ausdruck. Der Regentanz der nordamerikanischen Indianer war ein Ritual, um Regen herbeizuführen. Er wurde häufig vor den neuen Siedlern aufgeführt, im Austausch für Handelsgüter. Auch die australischen Aborigines tauschten bei großen Feiern und Zusammenkünften Lieder und Tänze aus, als Güter noch durch Tauschhandel den Besitzer wechselten. Der Tanz hatte einen Grund und Zweck, und jeder musste mitmachen.
In den meisten Ländern der Welt entstand der Volkstanz rund um feierliche Anlässe. Sie boten eine wiederkehrende Gelegenheit zusammenzukommen, was unweigerlich zu irgendeiner Form des Gruppentanzes führte. Gemeinschaftstänze wurden wegen ihrer einfachen Form gewählt, bei der auch Neulinge sofort mitmachen konnten und mit sofortigen Erfolgen belohnt wurden. Häufig wurden die Tänze mit der gleichen Anzahl von Frauen und Männern und in Form eines Vierecks getanzt. Das förderte die Zusammenarbeit und ein gewisses Maß an sozialem Geben und Nehmen. Diese Tänze wurden von Generation zu Generation weitergegeben und bedurften keines Choreografen, der die Schrittfolge festlegte.
Während der Renaissance, der großen gesellschaftlichen und intellektuellen Bewegung, die das europäische Denken von den Beschränkungen der christlichen Philosophie befreite, bildete sich allmählich ein Unterschied zwischen dem höfischen Tanz und dem ländlichen Volkstanz heraus. Es wurden Tanzmeister zur Ausbildung professioneller Tänzer angestellt, die den Adel unterhalten sollten. Diese Tänze wurden sorgsam schriftlich festgehalten, damit sie später neu aufgelegt werden konnten. An den Königshöfen begann die Entwicklung des Tanzes als visuelle Kunstform. Er schuf eine wichtige Plattform für Künstler, Komponisten, Designer und Choreografen. Die Höfe versammelten so viele Künstler, wie sie sich leisten konnten. Man begriff, dass eine solche Kombination verschiedener Künste einen weitaus mächtigeren und unmittelbareren Einfluss ausübte. Die neue Kunstform des Tanzes übernahm eine Führungsrolle unter den Künsten. Aufgrund ihrer Flexibilität konnte sie leicht an bestimmte Themen angepasst werden, die zu der Zeit wichtig waren. Seinen Ursprung hatte das Hofballett in Italien. Durch seine Popularität und seinen Glanz schwappte es jedoch bald in die meisten anderen europäischen Monarchien über.
Ein thematischer Gegenstand war für den Choreografen von äußerster Wichtigkeit. In den Tagen des kaiserlich-russischen Hoftheaters im späten 19. Jahrhundert wurde neben dem Komponisten auch stets ein Librettist angeheuert, der die thematische Grundlage für das Werk schuf. Es waren Mammutproduktionen im großen Stil, maßgeschneidert für ein Publikum, das auf opulente Spektakel versessen war. Manchmal musste der Choreograf etwas von seinem eigenen Geschmack opfern, um dem seiner Zuschauer zu genügen. Anfang des 20. Jahrhunderts, während der Russischen Revolution, kam der Impresario Sergei Djagilew mit seinem Ensemble Ballets Russes nach Paris und eroberte Europa im Sturm. Er suchte Komponisten wie Strawinski, Debussy, Poulenc und Prokofjew auf, damit sie Musik für ihn schrieben. Bildende Künstler wie Benois, Bakst und Natalia Goncharova entwarfen für ihn Bühnenbilder und Kostüme. Sie alle unterstützten sein Reservoir an jungen, dynamischen Choreografen, darunter Fokine, Massine, Balanchine und Nijinsky, um nur ein paar zu nennen. Viele Werke beruhten auf einer gut und sauber erzählten Geschichte, doch Djagilew hatte auch nichts dagegen, kontrovers zu sein. Mit Vaslav Nijinskys Le Sacre du Printemps versetzte er das Pariser Publikum in Aufruhr. Das Stück führte einen neuen, avantgardistischen Tanzstil ein, der von der komplizierten Musik Strawinksis begleitet wurde.
Aus dieser Bewegung entstanden frische Einflüsse. Das Geschichtenerzählen verschwand aus dem Tanz, von dem mehr Emotion und Leidenschaft gefordert wurden. Niedliche, brave und neckische Formen waren nicht länger akzeptabel. Stattdessen wollte man tief schürfende neue Wege finden, mit Figuren und Drama umzugehen, und die starren Formeln lockern. Die verheerenden Auswirkungen des Ersten Weltkriegs, die Depressionszeit in den Zwanzigerjahren und der Aufstieg des Dritten Reiches in den Dreißigern führten zur Entwicklung einer Kompositionstheorie, die Tänzer und Choreografen dazu zwang, ihre Kunst im Angesicht der Gewalt, der sozialen Unruhe und Spaltung kritisch zu hinterfragen. In Deutschland initiierten prominente Personen wie Mary Wigman und Rudolf von Laban eine neue Bewegung: Der „Ausdruckstanz“ gehörte zur expressionistischen Bewegung in der bildenden Kunst. Parallel dazu wurde in den Vereinigten Staaten von Ruth St. Denis und Ted Shawn der Modern Dance entwickelt. Das Stück „Der Grüne Tisch“, das 1932 von Kurt Jooss für das von ihm gegründete Folkwang-Tanzstudio in Essen choreografiert wurde, wurde als Todestanz in acht Szenen beschrieben. Es zeigte die fruchtlosen Diskussionen von Diplomaten rund um einen Tisch, während die Schrecken des Krieges mit all ihren Folgen für den normalen Bürger weiterwüteten – eine deutliche Stellungnahme gegen den Krieg, ein Jahr, bevor Adolf Hitler deutscher Reichskanzler wurde. Jooss bevorzugte Themen, die politische und moralische Probleme der Zeit aufgriffen. Nachdem er sich 1933 geweigert hatte, die jüdischen Tänzer in seinem Ensemble zu entlassen, floh er mit seiner Tanztruppe aus Deutschland und ließ sich im Vereinigten Königreich nieder. Dort konnte er seine Kunst weiter frei ausüben. Der englische Choreograf Antony Tudor, der von Jooss beeinflusst war, untersuchte in seinen Werken die Psychologie und die emotionalen Belastungen im menschlichen Leben ebenso wie Kummer und Trauer. Seine Dark Elegies aus dem Jahre 1937 spiegelten die Spannungen und Frustrationen der Dreißigerjahre wider. Die Pioniere des Modern Dance in Amerika, Doris Humphrey und Martha Graham, interpretierten die Tanzästhetik neu. Sie waren scharfe Beobachterinnen des physischen und emotionalen Verhaltens und haben den zeitgenössischen Tanz, so wie wir ihn heute kennen, entscheidend mitgeprägt.
Zum Glück geht der Prozess immer weiter. Es gibt derzeit viele begabte Choreografen, die großartige, nachdenklich machende Werke schaffen. Sie nutzen für ihre Produktionen die modernste Technik, die ihnen zur Verfügung steht. Oft gehört zum Choreografieren auch das Finden und Definieren eines Themas und einer Absicht. Bei der Arbeit, bei der Bewegung passiert dann etwas: Etwas verbindet sich mit etwas anderem, etwas erweist sich plötzlich als wichtig. Der mexikanisch-amerikanische Tänzer, Choreograf und Tanzlehrer José Limón, der bei Doris Humphrey studierte, schrieb in seinem Artikel für Selma Jeanne Cohens Buch The Modern Dance: Seven Statements of Belief: „Die Funktion des Künstlers besteht immerfort darin, die Stimme und das Gewissen seiner Zeit zu sein.“ Jeder Künstler und jeder Choreograf bezieht – absichtlich oder unabsichtlich – Stellung und macht eine Aussage, die über den Inhalt des eigentlichen Tanzes hinausgeht.
Unter dem Einfluss der Globalisierung wurden viele Tanzformen international bekannt, wie zum Beispiel Tango, Salsa oder Hip-Hop, auch wenn sie mittlerweile weit von ihrer Wiege entfernt sind. Auch hybride Tanzformen wurden in die westliche Kultur hineinkatapultiert, zum Beispiel durch die immer beliebteren Bollywood-Filme, die den traditionellen indischen Volkstanz mit Musicaltanz im Stil vom Broadway verbinden. Die Migration hat bei der Globalisierung ebenfalls eine Rolle gespielt. Früher war es unmöglich, ein russisches Ballettensemble irgendwo sonst als in seinem Heimatland zu sehen. Heute sind Choreografen internationale Stars, und ihre Werke werden von Tanzensembles auf der ganzen Welt getanzt. Manche sagen, dies hätte den nationalen und individuellen Stil der Ensembles verwässert. Doch es wird verlangt und erwartet, nicht nur vom Vorstand der Tanztheater, sondern auch von den Besuchern. Außerdem ist es von unschätzbarem Wert für den Fortbestand der Kunst, sowohl für den Tänzer als auch für den Zuschauer. Der Tanz kann vielleicht keinen Krieg beenden oder politische Ansichten verändern. Als Kunstform schafft er jedoch eine einzigartige Aussage, die das Publikum auf sinnvolle Weise mit einbindet. Tanz ist wichtig!
Quellenangaben
Peter Brinson und Clement Crisp: Ballet for all
Doris Humphrey: Die Kunst, Tänze zu machen
Alison Kent
Alison Kent hat klassisches Ballett und zeitgenössischen Tanz an der Rambert School of Ballet in London studiert und 15 Jahre lang als professionelle Tänzerin gearbeitet. Heute lebt sie als freiberufliche Tanzjournalistin und -kritikerin in Garmisch-Partenkirchen.
Manuel Cabrera
Manuel Cabrera wurde 1986 in Mexiko Stadt geboren. Er studierte Grafikdesign an der Universidad Iberoamericana. Zur Zeit arbeitet er als freischaffender Grafikdesigner und Illustrator, während er dabei ist, ein zweites Studium in Architektur zu beenden.
Dezember 2013
© Santacruz International Communication