// Wen interessieren
schon Tiere? //
Die Einfahrt eines Landguts in der Nähe von Valle de Bravo, Mexiko. Ein Hund überquert die Straße genau in dem Moment, als ein Lastwagen heranrollt. Zuerst schlägt der Kopf des Hundes gegen die Stoßstange. Der Fahrer scheint nicht zu bemerken, dass ein Hund in den Zusammenstoß verwickelt war. Der Hund bleibt unter dem Fahrzeug liegen, zwischen einer Bodenwelle und dem Hinterrad des Lastwagens. Der LKW hält schließlich an. Er überfährt den Hund nicht, aber es ist offensichtlich, dass er verletzt wurde. Das Tier schleppt sich hinter einen Busch am Wegesrand. Es ist ein streunender Hund – einer von Tausenden in den Dörfern von Mexiko.
Bei diesem Zwischenfall war ich neun Jahre alt und verfolgte das Ganze mit großer Beklemmung. Wir verbrachten gerade einige Zeit auf dem Landgut und wie es das Schicksal wollte, gab es keine anderen Zeugen außer ein paar Arbeitern und dem Lastwagenfahrer. Ein paar Stunden später kam ich noch einmal vorbei, um nachzusehen, ob der Hund immer noch hinter dem Busch lag. Da zerrten die Arbeiter den Hund gerade mit einem Strick hervor. Er hatte ganz offensichtlich Schmerzen und jaulte. Sie meinten, der Strick wäre notwendig, „damit er sie nicht beißen“ konnte. Unschuldig fragte ich, was sie mit ihm machen und ob sie ihn gesund pflegen würden, obwohl ich tief in meinem Herzen schon wusste, dass sie ihn nur von dem Gut wegschaffen wollten, um ihn anschließend irgendwo zurückzulassen. Qualvoll und unter Schmerzen sterbend, angekettet, ohne sich bewegen zu können. Noch heute fühle ich Angst und Machtlosigkeit, wenn ich mich an dieses Szenario erinnere. Für immer in mein Gedächtnis und mein Herz eingebrannt.
Seit ich denken kann, liebe ich Tiere und empfinde großes Mitleid, wenn ich die Bilder eines leidenden oder alleingelassenen Tieres sehe. Ich bin mir nicht sicher, ob dieses spezielle Mitgefühl genetisch bedingt ist oder ob es sich durch Erfahrungen im Leben bildet. Sicher ist, dass Menschen, die dieses Mitgefühl besitzen, ganz unterschiedliche gesellschaftliche und intellektuelle Hintergründe haben können. Tierfreunde reichen von Menschen, die eine Katze oder einen Hund von der Straße retten und aufnehmen, bis zu den Ultra-Radikalen, die nicht einmal Honig essen, weil sie die Honigproduktion als Ausbeutung der Bienen verstehen. Es gibt ernsthafte akademische Diskussionen zum Thema, das häufiger polarisiert als eint, aber das ist der Beginn jeder gesellschaftlichen Entwicklung. Die individuelle Herausforderung ist, Emotion und Intellekt zu verbinden und schließlich Hilfe und Maßnahmen anzubieten, die zum Wohlergehen der Tiere beizutragen.
In einem Land wie Mexiko sind streunende und hilflose Hunde und Katzen alltägliche Szenen, die der Mehrheit der Menschen gleichgültig sind. Die Zahlen sind alarmierend. Es wird geschätzt, dass etwa 14 Millionen Hunde (und wahrscheinlich eine ähnliche Anzahl Katzen) in Mexiko Streuner sind. Acht von zehn Hunden, die geboren werden, enden im ersten Jahr ihres Lebens in unwürdigen Lebenssituationen. Diese Zahl ist für reinrassige Hunde fast genauso hoch. Die Formulierung „enden in unwürdigen Lebenssituationen“ bedeutet in diesem Kontext, vernachlässigt auf der Dachterrasse eines Hauses, das ganze Leben angebunden in der Garage, zur Tötung an sogenannte Tierkrankenhäuser geliefert (die eigentlich nur abscheuliche Hundezwinger sind), für illegale und brutale Hundekämpfe verwendet oder auf Straßen oder Autobahnen ausgesetzt, um irgendwann überfahren zu werden. Die beiden zentralen Punkte dieses Problems sind einerseits das komplette Fehlen rechtlicher Kontrolle über den Tierhandel und andererseits eine fehlende Kultur der Verantwortung auf Seiten der Tierhalter. Leider findet in Mexiko Tierhandel meist auf Wochenmärkten (in Mexiko „tianguis“ genannt) statt oder in fürchterlichen Einrichtungen, wo Hunde und Katzen in Hinterhöfen gezüchtet werden und ihr ganzes Leben in Käfigen verbringen. Die Tiere leben unter erbärmlichen Bedingungen und die Verkäufer täuschen die Käufer in Bezug auf Rasse, Gesundheit und Alter der Tiere. Auf der anderen Seite fehlt die Verantwortung der Besitzer – Sterilisation ist kein Thema und wird auch nicht als Lösung für die Überpopulation und Vernachlässigung ganzer Würfe gesehen. Ständig hört man sinnlose Argumente wie „Sie soll doch wissen, wie es ist, Mutter zu sein“, um die Trächtigkeit einer Hündin oder einer Katze zu rechtfertigen, die dann einen oder mehrere Würfe gebärt, die schlussendlich kein Zuhause finden. Oder man sieht Männer große Augen machen und sich mental schon in den Schritt fassen, wenn vorgeschlagen wird, den Rüden oder den Kater zu kastrieren. Man muss mit ihnen sprechen und sie aufklären, dass „Fortpflanzung“ für Tiere etwas anderes ist als Sexualität wie wir sie als Menschen verstehen.
Gibt es denn nun Fortschritte in dieser Sache? Ja, nach und nach gehen wir in die richtige Richtung. Noch vor 25 Jahren wurden Tierretter und diejenigen, die nach verantwortungsvollen Adoptionsstellen in Mexiko gesucht haben, diffamiert und beschimpft, weil sie die Vokabel „Adoption“ im Zusammenhang mit Tieren benutzten. Man warf Ihnen vor, dass dieser Terminus nur im Zusammenhang mit Kindern verwendet werden darf. Auch das Bild, das Menschen von Tierrettern haben, hat sich verändert: Man denkt nicht mehr an ein dreckiges, vernachlässigtes Haus voller Tiere, und einen Besitzer, dessen hygienischer Zustand an seiner geistigen Gesundheit zweifeln lässt. Die Regierung trägt auch ihren Teil dazu bei. Es gibt einen Gesetzesvorschlag für alle Bundesstaaten Mexikos, der kostenlose Sterilisationskampagnen vorsieht. Immer mehr Staaten verabschieden Gesetze, die Tierquälerei mit Strafen belegen und sich mit komplizierten Themen wie dem Verbot von Zirkusvorstellungen und anderen Spektakeln mit Tieren beschäftigen.
Das Thema gewinnt weltweit immer mehr an Aufmerksamkeit. Soziale Netzwerke sind auch hier ein bedeutendes Werkzeug. Fälle von Tierquälerei werden schneller aufgedeckt und die Adoption von Tieren gefördert. Diese Netzwerke sind ohne Zweifel wichtig bei der Feststellung von Tierquälern und der Aktivierung der Massenmedien. Im Bundesstaat Jalisco ist es vor Kurzem gelungen, ein Tierschutz-Gesetz zu verabschieden, das Tierquälerei abschließend mit Gefängnisstrafe belegt. Dies war eine direkte Folge einiger Fotos auf Facebook, die eine Person zeigen, wie sie Hundewelpen bei lebendigem Leibe verbrennt. Ein Nachbar machte die Aufnahmen ohne bemerkt zu werden.
Die eingehende Beschäftigung mit Tierschutz führt zu emotionaler, finanzieller und sogar familiärer Zermürbung. Die Anzahl der täglichen Fälle ist horrend und das Thema weitläufig. Leidenschaft, Herzblut und chaotische Organisation bestimmen die Diskussion, aber man muss intelligent und konsequent arbeiten. Es ist traurig zu sehen, wie diese Anstrengungen an ein oder zwei Personen hängen und wenn diese Personen sterben (denn diese Art Engagement betreibt man bis zum Schluss), wird der Prozess unterbrochen oder sogar beendet. Es ist klar, dass man nicht jedes Tier retten kann, aber jeder Freiwillige, jedes Gespräch, jede Rettung und jedes Happy End bedeutet Stärkung und Konsequenz für unsere Plattform. Man muss fokussiert bleiben und mit Disziplin an diesem Thema arbeiten, damit Maßnahmen Früchte tragen.
Einen großen Schritt wird es in Mexiko geben, wenn kommende Generationen das lateinische Paradigma der katholischen Tradition durchbrechen, das Nächstenliebe und Unterstützung als Aufgabe des Staates oder religiöser Orden sieht. Es ist an der Zeit, dass die Gesellschaft aufwacht und jeder dort anpackt, wo er helfen kann oder einen Teil seiner Mittel gibt, ganz egal für welche gute Sache. In meinem Fall werden das weiterhin Tiere sein. Glücklicherweise besitze ich mittlerweile die Kapazitäten, vielen Hunde und Katzen zu helfen, die nicht das Glück haben, gerettet oder versorgt zu werden – wie jener Hund, der in der Einfahrt des Landguts angefahren wurde.
María del Carmen Portilla Pons
María del Carmen Portilla Pons (*1967) studierte Rechtswissenschaften am Instituto Tecnologico Autónomo de México und hat einen Master in Internationalem Wirtschaftsrecht und Betriebswirtschaft der Universitäten Leicester und Edinburgh. Sie arbeitete 18 Jahre lang als Firmenanwältin für multinationale Unternehmen.
Derzeit ist sie Leiterin der Pet Help, A.C., gegründet 2004 in Guadalajara, Jalisco (www.adoptandounamigo.mx ). Dies ist ein gemeinnütziger Verein zur Rettung, Rehabilitation und Adoption von vernachlässigten und missbrauchten Hunden und Katzen. Weitere Informationen: Portilla.maricarmen @ gmail.com
Manuel Cabrera
Manuel Cabrera wurde 1986 in Mexiko Stadt geboren. Er studierte Grafikdesign an der Universidad Iberoamericana. Zur Zeit arbeitet er als freischaffender Grafikdesigner und Illustrator, während er dabei ist, ein zweites Studium in Architektur zu beenden.
Juli 2014
© Santacruz International Communication